Vicenza ist die Stadt von Baumeister Palladio und der «Italia liberata dai goti». Eine Kulturfahrt ins Rinascimento.
Madame Frigos Aperitif
Stadtführungen sind oft nur ein «Amuse gueule», ein optischer Gaumenkitzler, vor oder neben Einkaufsbummel und ortstypischem Essen. Daher nennt Daniela Frigo ihre Kultur-Führung durch Vicenza einen «künstlerischen Aperitif». Und was für ein Appetitanreger!
Ihre Heimatstadt gilt zu Recht als eine der schönsten Städte Italiens. Vicenza ist die Stadt des Andrea Palladio, der am meisten kopierte Baumeister der Welt (Kapitol in Washington). Als Goethe im September 1786 Vicenza besuchte und die «Rotonda» des Palladio sah, schrieb er: «Vielleicht hat die Baukunst ihren Luxus niemals höher getrieben.»
Signora Frigo liebt Palladio. Seine Baukunst kann die quirlige, humorvolle und hochgebildete Stadtführerin mit Begeisterung zeigen und erzählen. Um nur vom Bus aus einen Blick auf die Villa Rotonda zu ermöglichen, lässt sie sogar die Basilika sausen.
Säulenwelt der Antike
Eine Palladio-Führung durch Vicenza öffnet die Augen für die Wurzel des «Rinascimento» (Wiedergeburt). Ja, Rinascimento und nicht Renaissance. Warum Französisch, wenn wir in Vicenza vor dem italienischen Original stehen?
Das in Vicenza von Palladio in prächtige Formen gegossene Rinascimento ist von großer Ästhetik, zweifellos. In einem der Stadtgebäude des Meisters gehen Studenten und Gäste aus der ganzen Welt ein und aus, nur um die Kunst des Palladio zu ergründen. Palladio hat, um es recht kurz zu sagen, die Ästhetik der hellenischen un römischen Säulenwelt wieder erweckt und sie zur unbestrittenen Mode seiner Zeit erhoben.
													Politische Triebfeder
Mir scheint die Verehrung von Architektur, Kunst und Literatur dieser Epoche zu hoch angesetzt. Die nordeuropäische Rezeption hat den schönen Schein mit Haut und Haar geschluckt, ohne den italienischen Hintergrund und die politische Triebfeder zu verstehen oder zu beachten. Sie sieht nicht, was in Vicenza offenkundig wird: Das Theatralische, ja Propagandistische an der «Wiedergeburt» Italiens.
Nicht umsonst ist Palladio ein Meister der optischen Illusion, wie Signora Frigo wiederholt an Beispielen aufzeigt. Dieser Effekt war von den Erfindern, den Förderern und den Schaffenden durchaus bezweckt. Palladio führt es in seinen Bauwerken deutlich vor Augen: Sein kühn und kühl inszenierter Antik-Kult im Auftrag der Patrizier und Kirchenfürsten ist ein Soufflé, ein Push-BH, ein Disneyland in Haute Couture. Großes Theater mit prachtvoll gefälschten Effekten, Ausreizung der Sinne, ein «Schau»-Spiel der Superlative. Alles zusammengefasst und anzuschaun im Teatro Olimpico zu Vicenza.
													Grandiose «messa in scena»
Das «Teatro Olimpico» des Palladio in Vicenza ist der beste und treueste Ausdruck der «messa in scena», die das Rinascimento im Kern ist. Ein römisches Amphitheater im geschlossenen Gebäude, an dem nichts echt ist – ja, das in seiner perspektivischen Illusionskunst mit der Falschheit geradezu kokettiert. Das olympische Theater in Vicenza reiht sich ein in eine ganze Industrie des Cinquecento, die (nach dem Schock der Entdeckung Amerikas) versucht, die vergangenen tausend Jahre des deutschen («gotischen») Italien mit nagelneu auf antik gemachten Statuen, Säulen und Inschriften vergessen zu machen.
«Italia liberata dai goti»
Nicht umsonst heißt das dichterische Hauptwerk des adeligen Gönners von Andrea Palladio «Italia liberata dai goti». Dieser Titel ist das Emblem des Rinascimento. «Italia liberata dai goti» – der Titel des Dichtwerkes ist das Bedeutendste an ihm, denn es ist das politische Programm Italiens jener Zeit. Der dichtende Patrizier Trissino hat sich so in seinem Werk verloren, dass es nie fertig geworden ist. Genau so, wie Italien nie mit der Befreiung von den Goten (Deutschen) fertig werden wird. (Man hängt zusammen wie siamesische Zwillinge).
Baukunst als Radiergummi
Andrea Palladio, geboren als Andrea Pietro Della Gondola, war Steinmetz von Beruf. Sein viel älterer Gönner und mehr, der Patrizier Gian Giorgio Trissino, bezahlte dem begabten jungen Handwerker einen Aufenthalt in der päpstlichen Machtzentrale Rom, um die Stilelemente der römischen Antike abzuzeichnen, auf dass sie für die Dekoration der Häuser von Vicenzas High Society verwertet werden könnten.
Weil das Erbe der Kelten und Germanen überall in Italien so überaus sichtbar war (und noch ist), bedurfte das Rinascimento groß angelegter Optik, um die gotische Natur Italiens wegzuradieren und das Wesen Italiens als frisches und mächtiges Erbe der Hellenen und der imperialen Römer erscheinen zu lassen: Das war das kulturpolitische Hauptziel des Rinascimento und die glänzend ausgeführte Mission des Andrea Palladio.
Die Palladio-Ironie
Beim künstlerischen Aperitif-Gang bleibt Frau Frigo vor einem wuchtigen, klassizistischen Patrizierhaus stehen, das übrigens an die 1880er Bauten der Herrengasse in Wien erinnert. Ecco, sagt sie, ein früher Palladio! Aber, fährt Frau Daniela in ihrem sympathischen Deutsch fort, «dieses hier sind keine Quadersteine, auch wenn es so aussieht, es ist Verputz, dahinter sind nur Ziegel!»
Palladio ist wirklich ein Genie der optischen Illusion. Es steckt eine subtile Ironie hinter dieser Fassade: der Steinmetz Andrea Della Gondola baut im Auftrag der Herren des Rinascimento Häuser unter falschem Namen aus falschen Steinen.